Montag, 9. Juli 2018

Brüderlichkeit

Mit diesem Begriff hatte ich ziemliche Schwierigkeiten. Denn im Umfeld von dem Gefühl fernen Begriffen wie Freiheit und Gleichheit, unter denen sich rasch etwas denken und wenig fühlen läßt, erschien mir dieser  peinlich mit Gefühl befrachtet. Was hat ein Familiending wie Brüderlichkeit mit der auf die Person und ihre freien Beziehungen der gleich geborenen verschworenen Republik zu schaffen? Da ist doch Bindung und Enge und Abwehr nach Außen...

In meinem politischen Leben hatte ich auch eher Erfahrung mit einer darüber hinaus gehenden Freundschaft, mit Solidarität und Gleichheit (mein Blick ist eher sozialdemokratisch), die Brüderlichkeit erschien mir eher als ein dem Recht entgegen gesetztes Wollen der Korruption, der Mafia und der Kader.

Ich hatte ein wesentliches Erleben vergessen: die Brotherhood of man. Dem auf der anderen Straßenseite lungernden jungen Kerl gab ich nicht aus Gründen des Mitleids, der Nächstenliebe oder der 68er Konvention eine Zigarette oder Getränk aus, Geld für X. Es geschah aus einem Gefühl der inneren Verbundenheit und Verantwortlichkeit heraus, aus dem Gefühl 68.

Bei Hannah Arendt fiel mir die unangenehme Berührtheit durch den Begriff der Brüderlichkeit zum ersten mal deutlich auf. Sie ersetzte ihn durch den der Solidarität.

Die Erschütterung der modernen Republiken durch die Wut der vernachlässigten Klassen und ihre Haß tönenden Anführer aus Funk und Fernsehen schien mir dann auf einen anderen Aspekt, ein mangelndes "Wir" hinzudeuten: auf die Abwesenheit von Fürsorge. Die fürsorgliche Hinwendung an den mit mir in der Gemeinschaft lebenden nicht immer nur Not leidenden Bruder, das aufmerksame, von Empathie getragene Zuhören und das daraus folgende Handeln, das scheint mir die Erwartung der überhörten, nun als Wutbürger jedem Rattenfänger nachrufenden, mißachteten Nachbarn zu sein.

Ich würde der Republik heute an Stelle der Brüderlichkeit die Forderung der "von Fürsorge getragenen Verantwortlichkeit" unter gleich und frei geborenen Personen aufgeben. Diese ausgetüftelte Erklärung erfüllt aber nicht die einfache Verständlichkeit und Mißverständlichkeit der Forderung "Brüderlichkeit", die gleichwertig neben Freiheit und Gleichheit wirkt, wenn eine Republik stabil ist.

Heute leben wir wieder einmal in einer Zeit der Entscheidung. Die Gleichheit hatte  sich krachend im Scheitern des allein auf Soziales setzenden Staatssozialismus verabschiedet. Und die im folgenden wilden Kapitalismus fischenden Verräter der westlichen Sozialdemokratie haben ihr auf lange Zeit das Vertrauen entzogen. Die Freiheit, die vor allem die des Dschungels war, hat die Bürger zuerst am Ich gekitzelt und schließlich Massen davon in Elend und die Angst davor gestürzt. In beiden Perioden wurde gutes und schlechtes genug für und gegen die Einzelnen unternommen. Aber nie mit dem Gefühl und dem Ausdruck der Verantwortlichkeit,  der fürsorglichen Aufmerksamkeit für ihre Meinung. Vielmehr versuchten Politik und Intellektuelle ab den 80er Jahren immer wieder einzelne Bevölkerungsschichten, Klassen und Berufe gegeneinander aufzustacheln, um unter dem Lachen der Anderen Stimmen zu sammeln. Fördern und Fordern anstelle der fürsorglichen Beratung der alten Sozialhilfe, das bezeichnet gerade den Fall der gefühlsmäßigen Abwendung, Distanzierung der von der Betriebswirtschaft und ihren Gewinnerwartungen erotisierten Sozialdemokratie. Und die wegen ihres Versprechens der Fürsorglichkeit gewählten Konservativen wendeten sich mit ihnen vom Tisch des "Wir" zur Bar global.

Diese Gelegenheit, fürsorgliche Verantwortlichkeit zu versprechen, haben nun einfache Diktatoren und Halbfaschisten, großmäulige TV-Clowns und Alleinherrscher ergriffen, um die Herrschaft über die Republik zu erobern. Die Folgen sind klar: Unterdrückung von Freiheit und Ungleichheit bis zum betonierten Elend.

Wer wirklich Republik will, ist aufgerufen, sich zur Gleichwertigkeit der drei Arten des Ausdrucks von politischem, der Menschenwürde gerechtem Handeln und Verhandeln zu bekennen:

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Alle Ideologen wollen es besser wissen als dir französische Revolution. Und sie führen mit ihrer einseitigen Betonung oder Verteufelung einer der drei Hoffnungen stets an den Abgrund.

Heute benötigt das vernachlässigte brüderliche Handeln Stärkung. Dem engen Wir des "Wir zuerst" ist dabei die Gleichwertigkeit in der Menschenwürdigkeit Aller entgegen zu halten. Auch der Konservative Wille darf bei der vordringlichen Verantwortlichkeit im direkten Umfeld die für das Wir aller Menschen nicht mißachten, wenn er über dem Wir nicht das Ich und Du vergessen und so die Person unter unter einer Mauer des zum "Wir zuerst" aufgeblähten Egoismus ersticken will.

Jedes Temperament neigt seiner eigenen Wertung zu, einmal liebt jemand mehr die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Einschränkung erlebend, einmal sieht er/sie sich der Gleichheit verpflichtet, der Freiheit als einem Wolfsrachen, der Brüderlichkeit als einer mafiösen Zumutung mißtrauend, schließlich ruft das andere Temperament nach Sorge und Verantwortung, der Freiheit als einem Wolfsrachen, der Gerechtigkeit als einer Maschine widerstrebend. Die Republik spiegelt das Spiel und den Kampf dieser Vorlieben politischer Wertung wider. Mein Wunsch ist: Bleibe bei Dir, aber achte auf die Wichtigkeit der Balance im Handeln! Und wehre den Vereinfachern. Sie wollen das Gegenteil; Herrschaft. Es gilt: Which side are you on?

Wir leben nur diesen kurzen Augenblick Existenz, Staub von Sternen beleuchtet. Morgen waren wir.

Wir können uns entscheiden, im Glanz eines Spiegels oder eines Beifalls zu leuchten, oder das Leuchten  der Anderen zu teilen und zu begleiten. For sympathy is what we need, my friend.

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