Sonntag, 8. September 2019

Schüler rechnen mit der Weltliteratur ab

Schüler rechnen auf Amazon mit der Weltliteratur ab. Dabei schonen sie niemanden. Weder Goethe noch Frisch und Dürrenmatt. Meldet der Tagesanzeiger

"Es ist schon fraglich welche idioten meinen, dass man so ein Buch in der Schule lesen muss. Völlig realitätsferne handlung und zu 0,0 nützlich für irgendwelche zukünftigen Berufe etc. Um soetwas zu schreiben braucht man mindestens zwei promille, um es zu lesen wohl eher drei... Niemals kaufen!!!"

Hier handelt es sich offensichtlich um die Ejakulation eines jungen Narzißmus in ein Buch. Wie er haben sich wohl schon tausende, darunter auch ich, an der überzogenen Verehrung des ersten Literaten der Großbürgerlichkeit, abgearbeitet.

Aber was kann Goethe für die Sehnsucht der Verehrer nach Zugehörigkeit zu einem Ruhmestempel? Er hat brav und sogar ernst geschrieben, auch geliebt und sich gesehnt und versucht,es in andere Seelen einzusingen. Und mit Verstand. Und weltoffener als ganze Generationen nachfolgender literarischer Betriebsamkeit.

Seine Haltung hat für mich viel zu oft etwas vom Oberlehrer, als dass sie mir gefallen könnte. Aber sein Stil macht eine erträgliche, feine klassische Musik, sein Verstand ist klar. Und wer etwas davon wissen will, wie es wohl früher in manchem Leben, in mancher Liebe und Sehnsucht war, liegt bei Goethe nicht verkehrt, wenn auch besser noch bei Jean Paul, dem Mann der Sehnsucht.

Was ein besoffener Narziß dazu zu sagen hat, gehört eigentlich nicht in ein literarisches Gespräch. Vermutlich ist es eher eine Frage der Versorgung mit öffentlichen Toiletten, wenn sich eine Jugend des Ich-Ich an jeder Säule entledigen muß.

Interessanter finde ich, was ein inzwischen vorgerückter Herr Dworschak zu einem meiner Lieblingsschriftsteller, Jean Paul, meinte, wissen zu müssen. Er scheint ein wenig vom Frommen zu kommen. Aus seiner Rezension 2001 bei Amazon:

"Nicht umsonst ist Jean Paul berüchtigt für ein Dickicht an Abschweifungen, Anspielungen und Metaphern, die kein Leser je vollständig durchschauen wird. Der Satzbau tut sein Übriges."

Die Frage ist doch nicht, welche Probleme der Leser mit dem Lesen hat, sondern was, wie schön und wie interessant das Dickicht ist, das seine fromme Neugier vom Einblick in eine Sehnsucht abwehrt.

"Zugutehalten (K.W.:man "hält" der Sehnsucht etwas "zugute"!) muß man dem Autor aber, daß er nicht (wie z. B. Eichendorff in seinem "Taugenichts") wirklich ungehemmt in Sentimentalitäten versinkt: zwar fließen die Tränen in Strömen und die Herzen brechen, aber immer sitzt die Satire bereit und zertrümmert die Hingabe an unvernünftige Schwelgereien."

Tränen fließen und Herzen brechen. Wer, der Jean Paul als Jean-Paul-Leser gelesen hat, sieht dort Sentimentalität? Schwelgereien? Unvernunft? Der vernünftige Goethe, dem die Begeisterung des JP für ihn peinlich ist. Ist Dworschak eine Art Goethe ohne angemessenen Ruhm des 21. Jahrhunderts? Einer, der Literatur - weiß?...

"Eine Menge Ironie ist dafür verantwortlich, daß das eigentlich ziemlich bemitleidenswerte Leben des Armenadvokaten Siebenkäs, der ohne Geld mit seiner naiven und frömmlerischen jungen Frau in einer schwäbischen Kleinstadt zu verkommen droht, seine Härte verliert."

Wo ist da Ironie? Der Könner und Kerl empfindet den Schmerz schwindender Liebe wie die Seligkeit der entstehenden doch eher nicht oder - witzig. Sein Lachen klingt irgendwie unecht aus dem Keller.

"Außerdem bietet der gute Jean Paul vor allem im letzten Teil dieses Schinkens ein Feuerwerk an schrägen Einfällen (Scheintod und Doppelgängertricks ... selber lesen!), die dem Leser die Mühen zumindest teilweise entgelten, die er zweifelsohne über weite Strecken haben wird. Schließlich erschien die erste Auflage 1797, und daß der damalige Bestsellerautor heute eher eine Randerscheinung darstellt, liegt nicht zuletzt an seinem ausschweifenden Stil."

Der gute Jean Paul als Schrulle. Daß der Bestsellerautor eine Randerscheinung darstellt, liegt am easy life des heutigen Literaturverstehens, dem die Industrieware mit Primitivstoffen besser runtergeht als eine  -krumm- gewachsene, aus der Leidenschaft hervorblühende Blume.

Der Beurteiler befand sich damals wohl noch in der Phase des Suchens, bei mangels Leiden mangelnder Leidenschaft, die auch ich in meinen Irrungen und Wirrungen in den Labyrinthen der Ideologien zur rechten Lebensführung und vor der Gefahrenstelle des Sich-aufs-Leben-Einlassens über alles urteilte, was mir etwas zu sagen schien. Damals fiel mir ein seltsamer Autor namens Jean Paul in die Hand.

"Daß die lebenskluge, realistische Geschichte zwischen Pathos, Ironie und Weisheit schwingt, verleiht dieser Normaloexistenz etwas Exemplarisches." So fasst ein/e U.A. im Hardenberg-Literaturkalender 2019 ihr/sein Lob über Michael Kleeberg zusammen. Ich würde das meine zu Jean Paul unter Auswechslung des Wortes "realistisch" durch "phantasiert" und "Normaloexistenz" durch "Person" ersetzen.

Und heute?
Bin ich immer noch nicht viel freier von Eifer und Vorurteil. So lese man diesen Text.

Aus 2012/13: "Man sollte nach Bayreuth kommen nur der Krokusse wegen. Da geht einem schon ganz von selbst der Jean Paul auf."

Kor. 1/12: "Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht."

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