Mittwoch, 4. Dezember 2019

Was Kunst ist

Schwierig, jemanden zu finden, der versteht. Nicht schlecht, wenn mal ein Zuhören dazu stellt. 

Ich fühle die eingetrockneten Blattstiele. Der feine Knoten, an dem die fünf Blätter saßen, der dickere am anderen Ende. Hier war Leben. Es ist nicht mehr zu fühlen, wenn es das jemals war. Aber ich stelle mir vor, da liefe noch diese Sehnsucht durch die Adern, die wir Leben nennen. 

Ich nehme die Rolle mit schwarzem Garn aus der Schublade, Produkt der neuesten chemischen Produktion und der feinsten Textilmaschinerie. Ich versuche, einen Knoten um ein Ende des Stiels zu binden und merke, wie unbeholfen ich bin. Die Hände zittern noch nicht, aber Daumen und Zeigefingern fällt das in Schlingen legen und durch die Schlingen ziehen schwer. Oft muss ich unterbrechen und von vorne neu beginnen. 
Kurz: nach 10 Minuten habe ich aus einigen Stielen und zwei gelben Blättern ein passables Mobile zusammen gebastelt. Gefühl sagt: Schön. Kunst.

Keine Frage, ein anderer, eine andere würde lachen und es -mit einigem Recht- den Erzeugnissen eines Reimeschmieds vergleichen. 

Es ist wirklich nicht alles Kunst, es gibt auch viel Misslungenes. Aber das hier bedeutet mir sogar mehr als das, was Du als Kunst gelten lassen willst. Ich sehe mehr darin als in manchem Deiner verehrten Werke. R zum Beispiel hat eine schöne Darstellung der Natur hinbekommen. Sehr berühmt. P hat alle möglichen linearen Zeichen gesetzt mit begeistertem Echo in der Welt. Man sah etwas darin. 


Aber was ist Kunst? Ich bin 68 und habe mich die meiste Zeit meines Lebens mit dieser Frage befasst. Niemand konnte mir eine befriedigende Antwort geben. Nicht die Lehrer und sogenannten Kunsterzieher, nicht die Weisen und Pfarrer, kein Stammtisch, kein aufgeklärter Schreiber. 


Es ist etwas, das über Können und Theorie hinaus geht. Wer weiß mehr? 


*
Am Nebentisch, nicht zu überhören, zwei junge Mormoninnen beim eifrigen Versuch, einen reicheren Usbeken zu missionieren. Auch er ist schon gefestigt in seiner Ikonostase und wird wohl nicht umkippen. Eine traurige Sache, die Verbohrtheit der Jugend. Sie weiß alles, glaubt nichts. Insoweit hätten da auch zwei von unserer streng atheistischen 68er Glaubensgemeinschaft sitzen können. Wir merkten nicht, mit wem allem wir unsere Gewißheiten teilten. Vom Nazi über Pol Pot bis zum Kolonialmanager des Imperialismus.  Vielleicht muss man wirklich alt werden und einige Schwere erfahren haben, um nichts mehr zu wissen und dafür irgendetwas friedliches zu glauben. 
*


Die Frage Kunst wird mir auch sonst niemand beantworten. Aber, was ist das, das mich bei meiner Bastelei berührte? Hier in diesen Resten war Leben, Sehnsucht. "Tat twam asi", wie der deutsche Buddhist Schopenhauer zitierte: Ich-noch-einmal in anderer Gestalt. So ist es vielleicht doch eher ein Denkmal als ein Schau-mal geworden. Es macht nicht Staunen über ein Können oder eine frappierende Perspektive, einen plötzlichen Einblick in ein besonderes Fühlen oder Mitfühlen. Aber es bringt Dir das Wunder näher, wenn Du nicht vor lauter Eifer den Kontext umgerannt hast. 


4.12.19 Klaus Wachowski 

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