Unrecht als Recht respektiert
Einen beschämenden
Sachverhalt berichtet Kurt Schrimm, früher Leiter der zentralen Stelle in
Ludwigsburg:
"Die Angehörigen des Werkstattzuges töteten auf Befehl
ihres Chefs an mehreren Orten, in denen der Zug vorübergehend einquartiert war,
jeweils mehrere Hundert Juden in einer zum Teil geradezu bestialischen...
Während der Mordaktionen spielte der Zugführer gelegentlich
auf seiner Ziehharmonika...
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart warf den Angeklagten Mord
und Beihilfe zum Mord vor.
Besagter Zugführer trat in diesem Prozess als Zeuge auf und
verfolgte den Rest der Hauptverhandlung als Zuschauer von der ersten Reihe aus.
Wie konnte es dazu kommen, dass der damalige Befehlsgeber Zeuge, die Befehlsempfänger
aber angeklagt waren?...
Der Zugführer wurde nach der Tat beim für ihn zuständigen
SS-Gericht angeklagt. Nicht wegen der Ermordung der Dorfbewohner, sondern wegen
Kompetenzüberschreitung. Er wurde vom Gericht zu einer Freiheitsstrafe
verurteilt, deren Vollstreckung bis nach Kriegsende ausgesetzt wurde. ...Aber bereits mit
Rechtskraft des Urteils war der sogenannte Strafklageverbrauch eingetreten, das
heißt, der Verurteilte durfte wegen dieser Tat nicht erneut vor Gericht
gestellt werden. Dabei spielte es keine Rolle, dass er nicht von einem
ordentlichen, sondern von einem SS—Gericht verurteilt worden war.
Noch erschütternder als die Tatschilderung ist die
Urteilsbegründung des Obersten SS— und Polizeigerichts München vom 24. Mai 1943:
"...Wegen der Judenaktionen als
solcher soll der Angeklagte nicht bestraft werden. Die Juden müssen vernichtet
werden, es ist um keinen der getöteten Juden schade...."
Für die dem damaligen Angeklagten vorgeworfene Tat war
ausschließlich ein SS-Gericht zuständig. "Eine schreiende
Ungerechtigkeit!", ist man spontan versucht zu sagen. Hier zwei Männer am
Ende der Befehlskette, denen langjährige Freiheitsstrafen drohten (die sie auch
erhielten), dort der Offizier, der die Aktion eigenmächtig befohlen hatte und
im Ergebnis straffrei ausging.
Und doch war das Ganze nach der Gesetzeslage rechtens. Das Verbot der
Doppelbestrafung ist in Artikel 103 Grundgesetz geregelt und genießt somit
Verfassungsrang. Es ist auch keinesfalls Ein Schutzgesetz für NS-Verbrecher, es
gilt für alle Menschen.
Ein Verurteilter soll wissen, dass damit die Sache für ihn
erledigt ist und er nicht ein Leben lang eine weitere oder zusätzliche
Bestrafung fürchten muss. Selbstverständlich dürfen wegen des Gleichbehandlungsgebots
NS-Verbrecher auch nicht von diesem Schutz ausgenommen werden. Dabei müssen
Folgen in Kauf genommen werden, die eigentlich unfassbar sind. "
Soweit die Auffassung des - nach Eindruck der Lektüre seines
Buchs "Schuld die nicht vergeht" - engagierten, kenntnisreichen und
integren Kurt Schrimm, ehemaliger Leiter der zentralen Stelle zur Aufklärung
von NS-Verbrechen in Ludwigsburg.
Erschreckend wie wenig zur Bestrafung der NS-Grausamkeiten
getan werden konnte, erschreckend, wie spät und saumselig die BRD an eine
konsequente Aufarbeitung ging. Ich selbst mußte erleben, wie einem Wachmann von
Buchenwald trotz gesetzlichem Ausschluß aus der Förderung die Vergünstigungen
nach dem Vertriebenen- und Verfolgungsrecht zugesprochen wurden. Soweit ich
mich erinnere noch in den 90er Jahren. Es gab aber auch viel ehrliche Anstrengung.
Auch das sind meine Erfahrungen aus der Stück für Stück, wenn auch viel zu spät
erfolgten, Nachbesserungen. Der hier von Herrn Schrimm aufgeführte Fall -wie
der gesamte Bereich der vernachlässigten Aufbereitung der NS-Justiz - scheint
symptomatisch für eine starke Unsicherheit in Gerechtigkeitsangelegenheiten.
Gerechtigkeit ist mir nur sekundär eine Sache der Relation
zwischen den Strafen verschiedener Täter im gleichen Umfeld. Gerecht muß Recht
sich zuerst gegenüber dem Opfer erweisen.
Die Republik baut ihr Recht nicht aus einem Weltbild, von
dem aus sie ihre Normen auf den Einzelnen herunterbricht. Hier ist der
Entscheidungsweg umgekehrt. Der Ursprung ist der und die Einzelne, aus deren
Verhandeln sich Handeln, und das gesamte Netz der Berechtigungen und
Verpflichtungen, des Rechts und auch des Strafrechts ergibt.
Die Republik kann ein aus anderen, insbesondere aus ihr
feindlichen, Haltungen stammendes Recht nicht einfach übernehmen oder
fortführen. Ihr Recht muß originär ihr selbst entstammen und kann nicht
abgeleitet sein. So können Rechtsvorschriften und Urteile aus Zeiten vor
Eintritt der auf ordentliche Weise gefundenen Rechte nur übernommen oder
übertragen werden, soweit sie dem neuen "originären" Rechtsempfinden
und -gestalten entsprechen, zumindest nicht widersprechen.
Einiges ist geschehen. Das Unrecht aus Nazi und
Kaiserzeiten, ja aus unvollendeter Republik der 20er etwa im Bereich Desertion,
Homosexualität und Psychiatrie wurde überprüft und aufgehoben.
Zu den Folgerungen des Herrn Schrimm in seinem selbst als
ungerecht empfundenen Fall hier nochmal das Zitat aus seinem Buch Seite 319:
"Ein Verurteilter soll wissen, dass damit die Sache für
ihn erledigt ist und er nicht ein Leben lang eine weitere oder zusätzliche
Bestrafung fürchten muss. Selbstverständlich dürfen wegen des Gleichbehandlungsgebots
NS-Verbrecher auch nicht von diesem Schutz ausgenommen werden.
Dabei müssen
Folgen in Kauf genommen werden, die eigentlich unfassbar sind. "
In diesem Fall war das Urteil nicht von einem ordentlichen
Gericht eines ordentlichen Staats, sondern von einer Lynchversammlung einer als
Rudel geführten Gemeinschaft. Gleichgültig, ob dieses Gericht in der einen oder
anderen Richtung zufällig ein dem Menschenrecht entsprechendes Urteil gefunden
hätte, so war es doch zumindest in vollem Umfang auf seinen materiellen
Rechtsgehalt zu überprüfen, wenn man nicht irgendeinem Täter gegenüber einem
anderen Täter sondern seinen Opfern gegenüber der Tat gerecht werden wollte.
Daß die Verfassung eine solche Möglichkeit offensichtlich
nicht vorsieht, ist ein Mangel, der hier -und vermutlich auch in vielen anderen
Fällen- zu Folgen führte, "die eigentlich unfaßbar" sind. Dem sollte -auch mit Rücksicht auf DDR-
Unrecht abgeholfen werden.
Ein Verurteilter soll
wissen, dass damit die Sache für ihn erledigt ist und er nicht ein Leben lang
eine weitere oder zusätzliche Bestrafung fürchten muss?...- Die Opfer
dann wohl auch!-
Bleibt zu hoffen, daß den inzwischen geschaffenen
internationalen Strafgerichtshöfen solche Hemmnisse aus derm Unrecht der
Vorzeit nicht im Wege stehen.
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