Montag, 26. Februar 2018

Übersehenes Unrecht

Unrecht als Recht respektiert


Einen beschämenden Sachverhalt berichtet Kurt Schrimm, früher Leiter der zentralen Stelle in Ludwigsburg:


"Die Angehörigen des Werkstattzuges töteten auf Befehl ihres Chefs an mehreren Orten, in denen der Zug vorübergehend einquartiert war, jeweils mehrere Hundert Juden in einer zum Teil geradezu bestialischen...


Während der Mordaktionen spielte der Zugführer gelegentlich auf seiner Ziehharmonika...

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart warf den Angeklagten Mord und Beihilfe zum Mord vor.

Besagter Zugführer trat in diesem Prozess als Zeuge auf und verfolgte den Rest der Hauptverhandlung als Zuschauer von der ersten Reihe aus. Wie konnte es dazu kommen, dass der damalige Befehlsgeber Zeuge, die Befehlsempfänger aber angeklagt waren?...


Der Zugführer wurde nach der Tat beim für ihn zuständigen SS-Gericht angeklagt. Nicht wegen der Ermordung der Dorfbewohner, sondern wegen Kompetenzüberschreitung. Er wurde vom Gericht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, deren Vollstreckung bis nach Kriegsende ausgesetzt wurde. ...Aber bereits mit Rechtskraft des Urteils war der sogenannte Strafklageverbrauch eingetreten, das heißt, der Verurteilte durfte wegen dieser Tat nicht erneut vor Gericht gestellt werden. Dabei spielte es keine Rolle, dass er nicht von einem ordentlichen, sondern von einem SS—Gericht verurteilt worden war.

Noch erschütternder als die Tatschilderung ist die Urteilsbegründung des Obersten SS— und Polizeigerichts München vom 24. Mai 1943:


"...Wegen der Judenaktionen als solcher soll der Angeklagte nicht bestraft werden. Die Juden müssen vernichtet werden, es ist um keinen der getöteten Juden schade...."


Für die dem damaligen Angeklagten vorgeworfene Tat war ausschließlich ein SS-Gericht zuständig. "Eine schreiende Ungerechtigkeit!", ist man spontan versucht zu sagen. Hier zwei Männer am Ende der Befehlskette, denen langjährige Freiheitsstrafen drohten (die sie auch erhielten), dort der Offizier, der die Aktion eigenmächtig befohlen hatte und im Ergebnis straffrei ausging.

Und doch war das Ganze nach der Gesetzeslage rechtens. Das Verbot der Doppelbestrafung ist in Artikel 103 Grundgesetz geregelt und genießt somit Verfassungsrang. Es ist auch keinesfalls Ein Schutzgesetz für NS-Verbrecher, es gilt für alle Menschen.


Ein Verurteilter soll wissen, dass damit die Sache für ihn erledigt ist und er nicht ein Leben lang eine weitere oder zusätzliche Bestrafung fürchten muss. Selbstverständlich dürfen wegen des Gleichbehandlungsgebots NS-Verbrecher auch nicht von diesem Schutz ausgenommen werden. Dabei müssen Folgen in Kauf genommen werden, die eigentlich unfassbar sind. "



Soweit die Auffassung des - nach Eindruck der Lektüre seines Buchs "Schuld die nicht vergeht" - engagierten, kenntnisreichen und integren Kurt Schrimm, ehemaliger Leiter der zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg.



Erschreckend wie wenig zur Bestrafung der NS-Grausamkeiten getan werden konnte, erschreckend, wie spät und saumselig die BRD an eine konsequente Aufarbeitung ging. Ich selbst mußte erleben, wie einem Wachmann von Buchenwald trotz gesetzlichem Ausschluß aus der Förderung die Vergünstigungen nach dem Vertriebenen- und Verfolgungsrecht zugesprochen wurden. Soweit ich mich erinnere noch in den 90er Jahren. Es gab aber auch viel ehrliche Anstrengung. Auch das sind meine Erfahrungen aus der Stück für Stück, wenn auch viel zu spät erfolgten, Nachbesserungen. Der hier von Herrn Schrimm aufgeführte Fall -wie der gesamte Bereich der vernachlässigten Aufbereitung der NS-Justiz - scheint symptomatisch für eine starke Unsicherheit in Gerechtigkeitsangelegenheiten.


Gerechtigkeit ist mir nur sekundär eine Sache der Relation zwischen den Strafen verschiedener Täter im gleichen Umfeld. Gerecht muß Recht sich zuerst gegenüber dem Opfer erweisen.

Die Republik baut ihr Recht nicht aus einem Weltbild, von dem aus sie ihre Normen auf den Einzelnen herunterbricht. Hier ist der Entscheidungsweg umgekehrt. Der Ursprung ist der und die Einzelne, aus deren Verhandeln sich Handeln, und das gesamte Netz der Berechtigungen und Verpflichtungen, des Rechts und auch des Strafrechts ergibt.


Die Republik kann ein aus anderen, insbesondere aus ihr feindlichen, Haltungen stammendes Recht nicht einfach übernehmen oder fortführen. Ihr Recht muß originär ihr selbst entstammen und kann nicht abgeleitet sein. So können Rechtsvorschriften und Urteile aus Zeiten vor Eintritt der auf ordentliche Weise gefundenen Rechte nur übernommen oder übertragen werden, soweit sie dem neuen "originären" Rechtsempfinden und -gestalten entsprechen, zumindest nicht widersprechen.


Einiges ist geschehen. Das Unrecht aus Nazi und Kaiserzeiten, ja aus unvollendeter Republik der 20er etwa im Bereich Desertion, Homosexualität und Psychiatrie wurde überprüft und aufgehoben.

Zu den Folgerungen des Herrn Schrimm in seinem selbst als ungerecht empfundenen Fall hier nochmal das Zitat aus seinem Buch Seite 319:


"Ein Verurteilter soll wissen, dass damit die Sache für ihn erledigt ist und er nicht ein Leben lang eine weitere oder zusätzliche Bestrafung fürchten muss. Selbstverständlich dürfen wegen des Gleichbehandlungsgebots NS-Verbrecher auch nicht von diesem Schutz ausgenommen werden. 

Dabei müssen Folgen in Kauf genommen werden, die eigentlich unfassbar sind. "


In diesem Fall war das Urteil nicht von einem ordentlichen Gericht eines ordentlichen Staats, sondern von einer Lynchversammlung einer als Rudel geführten Gemeinschaft. Gleichgültig, ob dieses Gericht in der einen oder anderen Richtung zufällig ein dem Menschenrecht entsprechendes Urteil gefunden hätte, so war es doch zumindest in vollem Umfang auf seinen materiellen Rechtsgehalt zu überprüfen, wenn man nicht irgendeinem Täter gegenüber einem anderen Täter sondern seinen Opfern gegenüber der Tat gerecht werden wollte.


Daß die Verfassung eine solche Möglichkeit offensichtlich nicht vorsieht, ist ein Mangel, der hier -und vermutlich auch in vielen anderen Fällen- zu Folgen führte, "die eigentlich unfaßbar" sind. Dem sollte -auch mit Rücksicht auf DDR- Unrecht abgeholfen werden.


Ein Verurteilter soll wissen, dass damit die Sache für ihn erledigt ist und er nicht ein Leben lang eine weitere oder zusätzliche Bestrafung fürchten muss?...- Die Opfer dann wohl auch!-


Bleibt zu hoffen, daß den inzwischen geschaffenen internationalen Strafgerichtshöfen solche Hemmnisse aus derm Unrecht der Vorzeit nicht im Wege stehen.

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