Dienstag, 9. August 2022

Carlo Schmid - Todesengel, Musensohn und Humanist

Henry Nannen und Carlo Schmid:
Was ist peinlicher, wer war schlimmer? 
Ich habe an viele Adressen wegen dem Humanisten und Todesengel von Lille geschrieben. Das Schweigen war bezeichnend und enttäuschend. 

Ein Überblick über historische Berichte zeigt vornehme Zurückhaltung zur Mitwirkung am Tod von Franzosen.

Zum Beispiel berichtet das Lebendige Museum online: "mehrfach konnte er erreichen, daß nicht auch noch unschuldig Festge-nommene erschossen wurden, sondern nur aktive Saboteure und Widerstandskämpfer, die auf jeden Fall mit einem Todesurteil rechnen mußten."

Immerhin, das humanistische Verständnis findet das fachmännische Aussortieren von Guten und Schlechten im Büro des Nazismus doch mindestens für einen entschuldbaren und irgendwie beachtlichen Akt von Angst und Erbarmen.

Mut der Menschlichkeit erkennt deutlicher das Werk 100 Köpfe der Demokratie : "1940 wurde S. als Kriegsverwaltungsrat zur Oberfeldkommandantur 670 nach Lille einberufen, wo er die Härten des dt. Besatzungsregimes zu mildern versuchte und Risiken einging, um das Leben in Geiselhaft genommener Franzosen zu retten." So tauschte er Leben gegen Leben.

Und was meint das "Blättchen in Tradition der Weltbühne Nr 2
16.1.2017" so recht kritisch von halblinks?

Das Platzieren von Namen sei doch irgendwie, irgendwie anders als eine Erschießung zu betrachten:

"Schmid manipulierte die Listen, indem er nur die Namen von Gefangenen notierte, die bereits zum Tode verurteilt waren und deren Exekution unmittelbar bevorstand. "

Er bekräftigte also nur den Mordbefehl, der auch ohne ihn wirksam war, ersparte sich einen eigenen?

Wie war es in folgenden Fällen?: ...zwischenzeitlich wurde "nicht mehr erschossen, sondern in die Konzentrationslager nach Deutschland deportiert."

Gab es da keine Erfordernis mehr zur Unterschrift?

Danach, 1943, gab es jedenfalls wieder neue Not:" Und wieder war es an Carlo Schmid, die Liste der zu Ermordenden zu manipulieren, indem er versuchte, vor allem die Namen derer dort zu platzieren, die bereits vorher wegen anderer Vergehen zum Tode verurteilt worden waren. " 

Vor allem...

Man platzierte die Namen ...

Ein wahrer Humanist? Petra Weber, die 1996 die Biographie verfasst, entdeckt auch den Sohn der Musen im Todesengel

Was liegt schief? Die Musensöhne, die sich von den Stahlgewittern an bis in die Erdbeeren bei Srebrenica um ihre moralische Antwort schleichen. Ein Humanismus, der ganz gegen seinen Willen vom 3. Reich profitiert und hilfreich schlechte Gewissen durch die Zeit trägt. Das Wegschauen der Braven, das Totschweigen der Toten. Der Gute mit Blut am Stift? Es lebt sich weiter in die Ehre. Und Schulen und Plätze werden nach einem benannt, der im Auftrag eines Mordregimes Menschen dem Tode zuführte.

In Bausch und Bogen entschuldigt, ohne je einem Wort der Anklage ausgesetzt gewesen zu sein. Wie viele zur SS verpflichteten Leute bewarben sich rasch noch zu einem Fronteinsatz, um nicht schuldig zu werden! Er blieb in Amt und Herrschaft, rückte nicht vom Schreibtisch. 

Im Lobesschwang der Frau Weber von rd. 800 Seiten betreffen 40 (5%) die Zeit in Lille, worin 20 den Musensohn zur Künstler- und natürlich Philosophennatur (Existenzialist) erheben. 
1941? - "Verwehte Düfte blähten meine Brust
Wie Heimkehrwind das Segel der Galeere.
Nun weiß ich Dinge, die ich nie gewusst
Und ohne die mein Leben Reue wäre"

"Carlo Schmid war (eben) ein Traumkind, das einen wachen Sinn für die Realität hatte" S 165
(Als Kriegsverwaltungsrat in Lille (1940-45) -Kapitel Der Künstler und Existentialist...)
Doch auch nach dem Krieg: "
schau:" Der Musensohn, der erst seit kurzem die politische Bühne betreten hatte, hatte einen erstaunlich wachen Sinn für die Realitäten der Politik.
Aus: euphorischer Neubeginn im Südwesten (1945-1947)/ Kritik muss erlaubt sein. Weber S 252 ff

Als es dann andersherum ging;

"Später versuchte er es mit einer Taktik der Geschmeidigkeit
Als deutscher Verantwortungsträger fühlte er sich "wie Schulbuben" von den Franzosen behandelt."

Carlo Schmid ging es nicht um einen Affront gegen die Franzosen, aber nach anderthalb Jahren der Besatzungsherrschaft wurde das autoritäre Besatzungsregime -nicht mit Lille zu verwechseln- zu einem gefährlichen Hemmschuh für eine demokratische Entwicklung in Deutschland...

Was wohl die Angehörigen der Toten dachten, während die Geretteten in wütender Dankbarkeit schwiegen? 

Einiges aus Lille:

Der sinnerfüllte Existenzialist

"Schmids Leben war trotz allem und vielleicht gerade deshalb sinnerfüllt. Er lebte damals sehr existentiell. Und es gab auch viel Leerlauf, viel Freizeit, in der er in eine andere Welt fliehen konnte, in die Welt der Musen. Die Zeit in Lille war nicht nur die Geburtsstunde des Politikers Schmid, es war auch die Zeit und der Ort, wo er seine künstlerische Begabung entfalten konnte." S 149

Verantwortung übernehmen

Schmid zog immer mehr Aufgaben an sich heran. Nur so konnte er zumindest in Teilbereichen die Schwere des Besatzungsregimes abmildern.
Die Aufsicht über die französische Justiz and die Gefängnisse, über die
er sich Anfang September genaue Unterlagen erbat, beanspruchte ihn
zunächst weniger als der Kampf gegen Plünderungen..." S 129
Gutes Tun erfordert nun einmal Herrschaft.

Tanz des Todesengels

"Oft war er gezwungen, seine Freizeit mit Niehoff zu verbringen. Wollte er überhaupt etwas errelchen, so durfte er den Umgang mit ihm nicht meiden, so durfte er sich nicht von den abendlichen Geselligkeiten ausschließen. Hätte er seine Abscheu allzu offen gezeigt, hätte er sich überhaupt kein Gehör mehr verschaffen können.
So war er zu einer Art Doppelleben gezwungen."

Grausamkeit bei besonderer Sensibilität

"In der Zeit vom 31. März bis 30. April 1942 wurden in Lille fünfzig
Geiseln exekutiert. In der Nacht vom 25. auf 26. März waren in der
Region d’Artois-Douai-Lens Sabotageakte an Eisenbahnlinien verübt worden, durch die ein deutscher Soldat das Leben verlor. Einen Tag später ordnete Falkenhausen die Exekution von fünf Geiseln an, falls die Attentäter nicht innerhalb von drei Tagen gefunden sein sollten; 15 weitere sollten erschossen werden, wenn innerhalb von zehn weiteren Tagen Noch keine Hinweise auf die Attentäter vorhanden seien. Am 14. April wurden neben den fünfzehn angedrohten Geiseln noch zwanzig weitere erschossen, die man nach der Ermordung eines deutschen Wachpostens am 11. April festgenommen hatte. Am 30. April wurden zehn Menschen als Sühne für die Ermordung eines deutschen Soldaten hingerichtet.

Auf Schmids Schreibtisch lagen die Geiselerschießungsbefehle. Er hatte die Geisellisten zusammenzustellen. Eine grausame Aufgabe für einen
Mann seiner Sensibilität und Humanität. Er wurde von Schuldgefühlen fast aufgefressen...

Es gab da Pflichten...
Was hätte man machen sollen?!
Umgang verpflichtet...

Carlo Schmid konnte so in vielen Fällen die grausame Praxis der Geiselexekution unterlaufen. Nach dem Krieg warf ihm der französische Sozialist Guy Mollet vor, er habe Resistance-Angehörige der deutschen Justiz ausgeliefert.” Im Straßburger Europarat wollte man sich deswegen nicht mit ihm an einen Tisch setzen. Daß er nur auf diese Weise das Leben Unschuldiger hatte retten können, wollten seine Ankläger nicht wahrhaben. Schmid selber quälten Gewissensbisse. Die Abschiedsbriefe der erschossenen Geiseln lagen auf seinem Schreibtisch. Viele der zum Tode Verurteilten waren Angehörige der Resistance. die für das Verteilen von Flugblättern oder die Gewährung von Unterschlupf für englische Soldaten mit dem Tode bestraft worden waren. Doch was hätte er machen sollen? Seinen Dienst quittieren? Er glaubte nicht, daß man durch Distanz sich weniger schuldig mache: "Tun und Nichttun wirken beide gleichermaßen Schicksal, und wer denkt, durch Abseitstreten sich aus der Verstrickung lösen zu können, der irrt sich in fürchterlicher Weise." Die Teufelsausrede" 'wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer schlimmer' enthielt mehr als ein Gran Warheit. Er mußte weiter versuchen, die Abscheulichkeiten des Regimes zu mildern. Die Anspannung war manche Wochen fast unerträglich. Ein "wenig Nachlässigkeit", ein wenig Bequemlichkeit und Müdigkeit mehr" konnte Menschen Freiheit und Leben kosten“. Und dieser Kampf um Menschenleben beschränke sich nicht auf die Dienstzeit. Er mußte weiterhin geselligen Umgang mi den Nationalsozialisten pflegen. Beim abendlichen Skatspiel konnte man manchen Verurteilten freibekommen. Carlo Schmid kam seine Trinkfestigkeit bei diesen abendlichen Geselligkeiten sehr zugute.

Häufchentausch zur Selektion

Die Anspannung bel dieser Manipulation der Geisellisten war: „Das bedeutet, daß ich eine Anzahl Karteiblätter, die vor mir liegen auf verschiedene Häufchen verteile, sie dann hin und her vertausche, sie nach einigen Telefongesprächen neu gruppiere, und was dann endgültig rechts liegen bleiben wird, die paar armseligen Namen, wird überantwortet werden. Es ist furchtbar dies mit kaltem Blute tun zu müssen, aber wehe dem, der dabei seine Hand von Bewegungen leiten ließe, deren Herr er nicht ist.“

So setzte der humanistisch ausgerichtete Musensohn und Selektionsbeauftragte mit furchbarem Gewissen und kalter Hand den Haken. Was die verantwortungsvolle Nachkommenschaft der Republik mit einem etwas abwesenden Blick auf die Uhr im Foyer der Carlo Schmid Schule abschnarcht...

Erhabenen Humanismus 
und andere Nachbemerkungen

"Ein entschlossener Gegner der 
Todesstrafe... fordert ihr Verbot im Grundgesetz: »... Die Würde des Menschen wird beim Vollzug der Todesstrafe nicht so sehr im Delinquenten gekränkt, als in denen, die mit der Vollziehung zu tun haben.« 1948 Der Stern Nannens geht zur gleichen Zeit auf. 


Gründungsherausgeber der im zweimonatlichen Rhythmus erscheinenden Neuen Gesellschaft waren der Staatsanwalt Fritz Bauer, der später die ab 1963 stattfindenden Auschwitzprozesse organisierte, der spätere Initiator des Godesberger Programms Willi Eichler, der zu den „Vätern des Grundgesetzes“ zählende Staatsrechtler Carlo Schmid sowie der Soziologe Otto Stammer.

Der 7 Jahre jüngere Bauer, ebenfalls Jurastudent im braunen Nest Tübingen hat wohl die Liste des NS-Richterbundes nicht gekannt. Was der Todesengel von Lille wohl getan hätte, wäre ihm ein Deportationswunsch vorgetragen worden?

Als er sich die Nazirichter vornehmen will stirbt Bauer unter ungeklärten Umständen mit 65 Jahren 1968.

1979, mit 83, geht Carlo Schmid in den verdienten ewigen Ruhestand ein.

Ehrungen (Wiki)

Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 

Orden wider den tierischen Ernst geehrt. 

Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg 

Deutsch-Französischer Übersetzerpreis für seine Übersetzung von André Malraux’ Werk 

Hansische Goethe-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. 

Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main. 

Ehrenbürger von Mannheim und Tübingen. 


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